Warum stagniert politische Bildung?


28. Juli 2019


geboren 1985, ist nach Studium in München, Helsinki und Hamburg und Zwischenstationen in München, Riga und Frankfurt Bildungsreferent im Bildungswerk des Deutschen Gewerkschaftsbunds in Düsseldorf. Seit 15 Jahren ist er Bildungsarbeiter, unter anderem für (Volks-)Hochschulen, Betriebsräte, Gewerkschaften, politische Stiftungen und die Naturfreundejugend Internationale.

Über das Warten auf einen neuen Modus der Bildungsarbeit

Vielleicht sehen wir um uns herum einen Umbruch der politischen Bildung. Folgt man Google Trends, ist der Suchbegriff „politische bildung“ seit September 2005 bis Juli 2019 nahezu irrelevant geworden. Folgt man jedoch auf Facebook  der sozialdemokratischen Georg-von-Vollmar-Akademie oder dem linken Barrio Olga Benario, wird überwältigendes Engagement für politische Bildung sichtbar: Hier sechs- dort fünfstellige Summen kommen durch Spender_innen zusammen, um politische Bildung möglich zu machen. 2015 machte das Land Baden-Württemberg den Schritt und führte mit der „Bildungszeit“ die bezahlte Freistellung für Seminare, den sogenannten „Bildungsurlaub“, ein. 2019 wurde eine – mit Vorsicht zu genießende – Studie des zuständigen Ministeriums veröffentlicht, laut derer jedoch die Bildungszeit nicht genutzt werde und durchaus wieder abgeschafft werden könnte. Das Bild ist uneinheitlich und könnte unendlich ergänzt werden, angefangen bei den ver.di-Bildungszentren, die geschlossen werden und nicht endend beim parallelen Ausbau von Seminar- und Kongressangeboten der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Eine behelfsmäßige aber (in der in Selbstverdächtigung geübten Subkultur der in politischer Arbeit und politischer Bildung Aktiven) klassische Schablone wäre ein Auseinanderfallen des Modus der Akteur_innen politischer Bildung und dem Modus der „Zielgruppe“. Damit kann behauptet werden, dass die wahrgenommene Beschleunigung der Geschichte, fachsprachlich „Transformation“, ein erneutes Interesse der Akteur_innen geweckt hat, die Betroffenen und Sich-Aktivierenden mit Bildungswerkzeug zu versorgen: Die Teilnehmenden von #FridaysForFuture sollen am besten Politische Ökonomie verstehen und Handwerkszeug zum Aufbau von organisatorischen Netzwerken haben. Nach der Massendemonstration zu #FairWandel sollen Betriebsräte Expert_innen für Digitalisierung von Arbeitswelt und Arbeitskampf werden. Die Clicktivist_innen zwischen #unteilbar und #aufstehen sollen Medienkompetenz erwerben und Zukunftswerkstätten organisieren können. Die im Pflegestreik NRW und Pflegebündnis Bayern aktivierten Kolleg_innen sollen vollausgebildete Vertrauensleute, die Lautsprecherwagenorganisierenden der #noPAG-Demos sollen Organizer_innen werden. Währenddessen freut sich die Jugendsekretärin schon, wenn ihr gewerkschaftlicher Ortsjugendausschuss Karl Marx diskutiert und die Projektbeschäftigte in der Stiftung, wenn ihre Stammtischkämpfer_innenausbildung gegen rechte Parolen gebucht wird.

Gehen wir davon aus, dass die Akteur_innen der politischen Bildung in ihrer gramscianischen Eigenschaft als „organische Intellektuelle“ ausreichend Gefühl für die derzeitigen Prozesse haben und dass sie mit der Orientierung auf Kritik- und Handlungsfähigkeit Recht haben, müsste das funktionieren. Es wäre, auch ohne Victor Hugo, eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Wenn die Idee der Akteur_innen richtig ist und der Modus der Zielgruppen richtig ist, die Zielgruppen sich jedoch ungern treffen lassen von all den Angeboten, erhärtet sich der Verdacht des unzureichenden Modus – sprich der Formen und der Melodie – der wahrgenommenen Bildungsarbeit. Ein Ansatzpunkt zum Sammeln von Indizien, was denn diesen Modus der Politischen Bildung ausmacht, kann schlicht und einfach ein Bildungsprogramm sein. In Anlehnung an das attisch-demokratische Losverfahren könnten hier die Bildungsprogramme der IG Metall (Gewerkschaft), der Rosa-Luxemburg-Stiftung (Aktiven- und Bewegungsorientierte Bildungsträgerin) und von Ende Gelände (dezentrales Kampagnennetzwerk) ein Abbild des Modus von Bildungsarbeit liefern.

Das „Bildungsprogramm für Aktive in Betrieb und Gesellschaft“ der IG Metall ist das Programm auf Bundesebene für Gewerkschaftsmitglieder, die nicht notwendigerweise Mitglied im Betriebs- oder Aufsichtsrat sind. Wahrnehmbar sind hier vier große Gruppen. Die bei weitem größte Gruppe an unterschiedlichen Seminarangeboten, die gleichzeitig auch am häufigsten angeboten werden, sind Bildungsangebote zu Betriebsverfassung, Tarif- und Sozialpolitik, Ökonomie, Transformation, Arbeitsregelungen und weiteres aus dem Bereich Grundlagen- und Hintergrundwissen, ich nenne es vorläufig und grob den Bereich „System“. Mit über 45 verschieden Angeboten und hunderten Terminen ist hier der Schwerpunkt der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit für Vertrauensleute und andere Ehrenamtliche. Danach kommen mit über 35 einzelnen Angeboten, aber weit weniger Terminen, der Bereich der Handlungsfähigkeit in der politischen und gewerkschaftlichen Arbeit: Partizipationsmethoden, Zielgruppenarbeit für Frauen, Jugend, Migrant_innen oder Erwerbslose, Moderation, Leitungstechniken, Pädagogik, Projektmanagement bis hin zu Social Media, bilden einen auf Befähigung ausgerichteten Block, den ich hier als „Methode“ fasse. Mit kleinerem Abstand folgt ein Block von gut über 20 Angeboten der IG Metall zu Demokratie, Geschichte der Arbeiterbewegung, Migration oder Ökologie, die Positionen der IG Metall verbreiten und reflektieren sollen, die ich als „Haltung“ zusammenfasse. Mit etwas Abstand folgt der letzte Block mit Lern- und Arbeitsstrategien, Sprachkursen und Spezialseminaren zu Ergonomie und Umgang mit Gefahrenstoffen, die ich als „Arbeitswelt“ fasse. Formal gesehen finden die Angebote in mehrtägigen, oft einwöchigen Seminaren statt. Die Freistellung gibt es entweder nach Bildungsurlaubsgesetzen der Länder oder nach Betriebsverfassungsgesetz für Betriebsräte. Neben den systematisch motivierten Bildungsangeboten zu Wirtschaft oder zu gewerkschaftlicher Tätigkeit fällt auf, dass die themenorientierten Bildungsangebote (Transformation, Migration, …) die Abteilungen bzw. Schwerpunkte des IG Metall-Bundesvorstands abbilden. In den Regionen findet weitere Bildungsarbeit statt, hier auch zielgruppen- und interessenorientiert, aber (noch) enger auf die Aktiven und Eingebundenen in die Arbeit der Betriebe und Personengruppen zugeschnitten und oft de facto nur für diese offen stehend.

Unter den Veranstaltungen der Rosa-Luxemburg-Stiftung sind die bundesweiten und regionalen, öffentlichen Angebote der linksparteinahen Stiftung aufgeführt. Allein für das erste Quartal 2019 sind knapp 500 Veranstaltungen aufgeführt. Davon mit weit über 250 Angeboten führt der Block aus historischen, ethischen, kulturellen, vor allem feministischen Angeboten, die ich wieder unter „Haltung“ fassen kann. Mit gehörigem Abstand folgt ein Block mit über 130 Angeboten zu klassischen Politikfeldern von Selbstverwaltung bis Strukturwandel hin zu Länderkunde und Arbeitsrecht, den man wie in der IG Metall unter „System“ fassen kann. In einer anderen Liga spielen Angebote zu Moderation, aktiver Kommunalpolitik, Awareness und Argumentationstraining mit etwas über 20 verschiedenen Angeboten, die den RLS-Block „Methode“ bilden. Einzelne weitere Angebote finden zu Technik, Ernährung und Stressabbau, vielleicht fassbar als „Lebenswelt“, statt. Formal sehr vielfältig finden Filmabende, Bildungsreisen, Vorträge und Seminare statt, im Wording mit Ausnahmen für Frauen*- und Migrant_innenangebote ohne Zielgruppenbeschränkung, jedoch ausgeschrieben in spezialisierter Fach- und „Richtungsdialekten“.

Unter den Bildungs- und Informationsterminen von Ende Gelände finden sich 2019 weit über 150 Veranstaltungen mit hochstandardisierten Inhalten. Mit weit über 50 Terminen finden Informations- bzw. Mobilisierungsveranstaltungen bundesweit statt, flankiert von Themenveranstaltungen etwa zum Verhältnis von Klimabewegung zur Wissenschaft oder zu Gender, die jeweils als Arbeit an „Haltung“ vermitteln. Relativ dicht folgend finden ähnlich viele Aktionstrainings und Workshops statt, die das Verhalten und Protestformen auf Camps und Demos schulen und so „Methode“ vermitteln. Vereinzelt finden Veranstaltungen zu Rechtsthemen mit Schwerpunkt Antirepression und politische Einordnung der Klimabewegung statt, die im kleinsten Block „System“ fassbar sind. Formal sind die Angebote Tages- oder Abendveranstaltungen mit größeren Wochenendmobilisierungen kurz vor den Hauptveranstaltungen von Ende Gelände. Die immer wieder reproduzierten Veranstaltungen verlassen in Teilen den – wohl subjektiv nur am Rande hochgehaltenen – Anspruch, Bildungsarbeit zu sein, und sind vor allem Kampagne und Aktivierung – damit jedoch ein eigener Bildungsprozess der Beteiligten.

Typus und Bildungsverständnis einer Bildungsreferentin der IG Metall, einer Teamerin der RLS oder einer Workshopleiterin im Umfeld von Ende Gelände sind mehr als unterschiedlich genug. Selbst wenn ein organisationspolitischer und gesellschaftlicher Anspruch für Politische Bildung „mit Richtung“ jeweils angenommen werden kann, wird sich wohl weder der Begriff von Organisation noch von dem, was das Politische ausmacht, im inhaltlichen Konsens finden lassen. Auch die starken Unterschiede in den Schwerpunkten der Bildungsträgerinnen zwischen „Systematische Grundlagen“ und „Aktionstechniken vermitteln“ stellt eher Bandbreite der Bewegungen und Bewegungsformen in der Bundesrepublik dar, als dass es ein wie auch immer gemeinsames formales Bildungsverständnis geben kann. Oder?

Ist nicht ein gemeinsamer Nenner, der Modus, ein Angebot zu schaffen für eine bekannte Zielgruppe mit einem umrissenem Lehrziel? Ist nicht „Einführung in die Tarifpolitik“, „Frauen*geschichten“ und der „Mobivortrag“ einheitlich hinsichtlich des „Hineintragens von Bewusstsein“ in die jeweils als zentral verstandene Bewegung? Die IG Metall kanalisiert Inhalte und Methoden durch die ihr offenstehenden Freistellungsmöglichkeiten für Beschäftigte mit den Handlungsmöglichkeiten, die politisch und legal im und um den Betrieb möglich scheinen. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung bildet die aktuellen Handlungsräume ihrer Zielgruppen von Frauen*politik bis Kommunalpolitik ab und bietet Haltung und Orientierung für das existierende aktivierte Spektrum ihrer Zielgruppen. Ende Gelände geht mit den für notwendig empfundenen Aktionsmethoden und inhaltlichen Kernaussagen der Kampagne in die Fläche und bietet Handlungsoptionen für ökologisch motivierte, dem Aktivismus gegenüber offene Menschen an. Jeweils findet Bildungsarbeit statt für eine erschlossene Zielgruppe mit strategisch bestimmten Inhalten, die (juristisch hier, moralisch da) eine Weltwahrnehmung und Formen des Verhaltens und Handelns anbieten. Dieser Modus hat seinen Sinn, er hat seit Otto Brenner und seit der Neuen Linken und seit Wackersdorf die organisationspolitische Handlungsfähigkeit der jeweiligen Zusammenhänge und ihrer Quellstrukturen aufrechterhalten. Dieser Modus entspricht der Hauptaufgabe jeder Organisation im weitesten Sinne: Sich Erhalten, Nachwuchs Finden, Weiterführen. Warum erfüllt der Modus nicht die zweite Aufgabe? Warum macht der Modus des Bewusstsein Hineintragens nicht die Idee zur materiellen Gewalt, zur gesellschaftlichen Hegemonie? Oder führt zumindest dazu, dass politische Bildung mit jeder gewonnenen Teilnehmenden neue und weitere findet?

Vielleicht fehlt dieser strategischen Bildungsarbeit etwas. Vielleicht ist das Beibringen, ehrlich ausgedrückt die Erziehung, als Modus der politischen Bildung nicht ausreichend, um eine soziale Bildungsbewegung auszulösen. Ganz früher, in Athen, war der Versuch der Rhetorik- und Politiklehrer, nachdem die Bevölkerung durch schamloses Theater und sichtbare Infragestellung von Göttern und Adel nicht mehr für das Auswendiglernen der ehrwürdigen Weisheiten zu haben war, das lehrende Gespräch: Aus einer den Alltag beherrschenden Frage – im Tohuwabohu der politischen Cliquen und Volksgerichte etwa die Frage nach dem Wesen des Rechts oder in der Auflösung der alten Sippen und Autoritäten die Fragen nach der eigentlichen Freundschaft – wird ein Dialog. Der Bildungsarbeiter nimmt auf, was an Themen und common sense im Gegenüber steckt und bringt über die Ebenen des Vergleichens, der Reflektion der spezifischen Moral der Frage bis zur abstrakten Ebene der Struktur eines Arguments einen Denkprozess in Gang. Ohne echte Zahlen von damals scheint diese philosophische Revolution der Bildung doch so Einige mitgenommen zu haben und hat Geschichtsschreibung und Pädagogik nachhaltig beeindruckt.

Hier methodisch anzusetzen ist eine belastbare Intuition. Formal scheint hier in der beruflichen Bildung das Lehrgespräch, in der Erwachsenenbildung das konstruktivistische Seminar bzw. die Moderation durch. Inhaltlich stammt hier die Rede ab, „die Menschen da abzuholen, wo sie sind.“ Die Gewerkschaften bieten berufliche oder lebensweltliche Schulungen an – von der Prüfungsvorbereitung über das Fahrsicherheitstraining bis zum Diversity-Workshop – um hier abzuholen und in der strategischen Bildungsarbeit wieder abzugeben. Politische Stiftungen bieten Managementfortbildungen an, um neben dem ideologischen einen fachlichen und beruflichen Zugang anzubieten. Hier findet eine notwendige Professionalisierung der politischen Arbeit oder zumindest Regenerierung von Sprachfähigkeit statt, doch der Kamin vom privaten (Bildungs-)Bedarf zur öffentlichen Politik scheint, siehe oben, nur für überschaubare Gruppen anwendbar. Blickt man noch einmal in diese kompetenzorientierten, bis in die berufliche Bildung reichenden Programme, etwa bei der Friedrich-Ebert-Stiftung oder der Linken Medienakademie, lässt sich analog wieder der Modus der strategischen Bildungsarbeit ablesen. Es wird wieder etwas hineingetragen, diesmal Fähigkeiten und Fertigkeiten.

Wir finden so vielleicht neben der „Erziehung“ der Mitgliedschaft die „Schulung“ derselben, intuitiv fehlt hier noch eine Zutat, um Bildung in Bewegung zu bringen. Mit dem Blick auf das Formale werden unter Umständen systematische Grenzen sichtbar. Die IG Metall kann Seminare machen für Metaller_innen, mit Metall-Tarifverträgen, für den Klempner im friesischen Kleinstbetrieb ist es schwierig, an einer mehrteiligen Qualifikationsreihe für Aktive teilzunehmen. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung kann Haltungs- und Reflektionsarbeit für politisch Engagierte und Informierte machen. Etwa eine feministische Grundlagenauseinandersetzung über das „ob“ von Frauen*bewegung kann in einer Seminarausschreibung, die bereits in der Vorankündigung einen zumindest grundsätzlichen Feminismus und dessen Sprachregelungen voraussetzt, nicht erfüllt werden. Die hochstandardisierten Informationsbausteine von Ende Gelände bieten Reflektionsräume, Selbstvergewisserung und Handlungsfähigkeiten innerhalb der inhaltlich bereits motivierten Zielgruppe, stabilisieren im Sinne der Kampagnentheorie die Überzeugten. Dem Modus der strategischen Bildungsarbeit ist damit eine nicht absolute, aber in verschiedenen Ausformungen sichtbare und notwendige Exklusivität zu eigen, unabhängig davon ob die Schranke rechtlicher Zugang, Finanzierbarkeit, ideologische Vorbildung oder emotionale Bereitschaft zum radikalen Handeln ist.

Hier ist es denkbar, kritisch und historisch zu arbeiten und ein Bild zu zeichnen vom Niedergang der politischen und gewerkschaftlichen Jugendarbeit, deren originäre Aufgabe die Initiation neuer Gruppen und die Reformierung von Bildungsformen ist. Ein Bild vom Übergang verbandlicher und parteilicher Bildungsarbeit zu nicht-organisationsgebundenen oder öffentlich-rechtlichen Trägerinnen der Bildungsarbeit gehörte da genauso dazu wie steigende materielle Konsumfähigkeit der Bevölkerung und damit schwindende Nachfrage nach politischen, kostenfreien oder kostengünstigen Formen der Freizeit vom Urlaub in der Naturfreundehütte über das Sommerfest der Baugenossenschaft bis zum Wochenendseminar der KPD oder dem Informationsabend der AWO. Vielleicht gehört zu diesem Bild auch die in jedem Jahrzehnt seit der Errichtung der BRD sich in verschiedener Form erneuernde Reform- bis Revolutionsbewegung aus der politischen Bildungsarbeit, von der DGB Jugend schon in den 1950ern über SHB und SDS in den 1960/70ern bis zu den breiten Lehrlings- und Studierendenbewegungen der 1960/70er und der Selbstbildungsbewegungen der Initiativen und Gruppen der 1970/80er: Bewegung ist Last auf den Strukturen, oft kostet sie sogar strukturelle Macht bis hin zur Erneuerung oder Infragestellung des Begriffs des Politischen in den jeweiligen Trägerstrukturen. Da mag es ohne Unterstellung der aktiven Böswilligkeit schlicht systemrational sein, Bildungsarbeit einzufangen, zu pädagogisieren und inhaltlich wie formal beherrschbar zu machen, als sich hier die „eigene“ Front gegen den jeweiligen Bundesvorstand oder die jeweilige politische Linie selbst zu züchten. Aber ein kritisches Bild kann nur Analyse und Interpretation sein, wenn sie nicht mit einer Orientierung verknüpft werden kann. Nehmen wir die Denkbarkeit des Bildes wahr und an, die uns die Kritik der Kritik zeichnen könnte, und beobachten, welche Tendenzen im Augenblick versuchen, die notwendigen wie unzureichenden Beschränkungen der strategischen Bildungsarbeit auszugleichen.


EMPFEHLUNG DER REDAKTION


Eine Herangehensweise stellt auf die Methode ab. Mit Konzepten aus der Konferenzsorte „Open Space“ und dem „BarCamp“ wird versucht, statt Angeboten schlichtweg Räume zu schaffen: Ein Platz, einige Moderationskoffer, Teamende und Prozessmoderator_innen und etwas Verpflegung wird zur Verfügung gestellt, die Themen und Fragen sollen von den Teilnehmenden und Besucher_innen der Veranstaltung selbst gefunden werden. Zum Beispiel werden Stichworte gesammelt und zusammengeführt, was dann zu Arbeitsgruppen führt. Auf diesem Ansatz basiert beispielsweise der Zukunftsdialog des DGB, der sich aus online- und offline-Veranstaltungen, Diskussionsforen und Zukunftswerkstätten zusammensetzt. Hier bringen die Kolleg_innen ihre Themen ein, zum Beispiel „Wohnen“, die Strukturen des DGB schaffen dazu Bildungsangebote und Werkzeugkoffer für die lokale und regionale Gewerkschaftsarbeit. Wie aus 35 Jahren Open-Space-Experimenten bekannt, ist zumindest die erste Runde der Themenfindung exklusiv, wenn eben Themen eingebracht und rhetorisch verteidigt werden müssen. Die grundlegenden Weichen werden also gestellt von denjenigen, die Zugang zur Struktur DGB und darüber hinaus die politische Ausbildung oder die emotionale Energie haben, ein bearbeitungsfähiges Thema aufzuwerfen und einzubringen, um dann die politische Befähigung als auch das dicke patriarchale Fell mitzubringen, ihr Thema („Schultoiletten“) bei der Zusammenführung von Themen bewusst im Diskussionsprozess unterzubringen („kommunale Investitionen“).  In der zweiten bis n-ten Runde normalisiert sich die Exklusivität, wenn auf bestehende Themenblöcke Bezug genommen werden kann, die Beteiligung sich erhöht hat und eine Übung in Partizipationsveranstaltungen sich eingestellt hat. Theoretisch interessant ist hier, dass hier ein Dialog stattfindet, nicht nur auf den Kärtchen das Wort abgedruckt ist. Dialog ist im Griechischen die Unterredung und die Besprechung aus „Dis“, „Durch“ und „Logos“, „Rede, Sprache, Vernunft, Sinn, Lehre“ und noch einige andere Bedeutungen und Nebenbedeutungen. Die Besprechung bearbeitet das Thema, als gemeinsame Besinnung verändert sie auch im Erfolgsfall das Reden und Denken der Gesprächspartner und sie gehen anders auseinander als sie vorher zusammengekommen sind. Wie in einer besseren Fernsehserie, in der was passiert. Wenn ich jetzt einen Dialog zwischen aktiven Gewerkschafter_innen (vielleicht sogar mit Umfeld) und der Struktur DGB annehme, behaupte ich, dass nicht nur strategische Positionen und strategisch für nötig empfundene Handlungsweisen vom DGB zu den Menschen transportiert werden, sondern (das Adjektiv zu Dialog ist dialektisch), dass hier ein dialektischer Prozess stattfindet, der im Rahmen von Satzung und Organisationsinteresse des DGB Schwerpunkte der politischen Bildung und der politischen Arbeit neu sortiert, Gelder und Stellenbeschreibungen umgeschichtet und Projekte umgewidmet werden. Hier sehe ich eine Möglichkeit sich gegenseitig verstärkender Energien: Eine stellvertretende Vorsitzende eines Kreisverbands irgendwo in Baden-Württemberg gibt ihr Thema „Leerstand von Läden und Wohnungen“ in die Diskussion hinein, bekommt ein kleines Onlineportal, einige Seminare und einen Werkzeugkasten für Aktionsideen zurück. Davon kann sie konkret zwei oder drei Bestandteile brauchen, erhält jedoch Motivation und neue Handlungsfähigkeit durch die vermittelte Bildung, deren Inhalt und grobe Form sie selbst mit entwickelt hat. Sie kann in ihre Gemeinde hineinwirken, bekommt Ressourcen aus der verbesserten Aktivität und hat Energie, die sie wieder in den Dialog mit dem DGB stecken kann. In dieser Dialektik steckt vielleicht ein guter Teil eines Ansatzes. Er ist zwar beschränkt auf Funktionär_innen und solche, die sich als Funktionär_innen fühlen, in anderen Zeiten hätte man sie Kader genannt. Sie ist beschränkt auf diejenigen, die die Zeit- und Kraftressourcen haben für Onlineplattformen und Werkstattkonferenzen. Die enge Verknüpfung von operativer Arbeit vor Ort, strategischen Notwendigkeiten der DGB-Bundesspitze und der aktivierend-unterstützenden Bildungsarbeit kann zu sichtbaren kurzfristigen Erfolgen führen, wird jedoch nur sehr vermittelt organisationspolitische Rückkoppelung auslösen oder politische Bildungsprozesse im vollständigeren Sinne direkt auslösen. Nichtsdestotrotz kann ich feststellen, dass hier die oben wahrgenommestrategische Rahmengebung der politischen Struktur bzw. der Trägerin der politischen Bildung, kurz gesagt ihr Zweck, gesichert ist, aber gleichzeitig ein gegenläufiger Informationskanal geöffnet wird und „auf Bestellung“ gearbeitet werden kann. Das Verhältnis von Mensch zu (Bildungs-)Struktur ist nicht mehr das von Marktteilnehmenden, die sich einander aussuchen, sondern es wird zu einem sozialisierten (aber politisch-institutionell gerahmten) Austauschverhältnis zwischen den funktionsteiligen Träger_innen gewerkschaftlicher Arbeit.

Es bleibt die Frage, wie nicht-freigestellte, nicht finanziell und rechtlich zu Bildungsurlaub befähigte und, vor allem, nicht im Seminarraum sozialisierte Menschen für einen solchen dialektischen Prozess von Bildungsarbeit gewonnen werden können und Bildung in Bewegung kommt. Natürlich gibt es die, auch gut genutzte Möglichkeit, Seminare und Trainings von Gewerkschaften, Stiftungen, Kampagnen, Parteien und anderen Strukturen „inhouse“ anzubieten – was den Zeitaufwand zwar verkleinert aber nicht überwindet. Es wird viel Geld ausgegeben und viel Geld verdient, um das klassische Präsenzseminar zu ersetzen oder zu ergänzen durch Videos, Chaträume, Texthinweise und andere Instrumente aus dem Fernunterricht und Online-Bildungsangeboten. Hier wird zumindest in der Tendenz der Modus der strategischen Bildungsarbeit reproduziert, wenn Vortragsvideos oder Linksammlungen im Vorhinein zur Verfügung stehen sollen. Diese Formen von Angeboten erfordern Zeit und Energie, sich nach und zwischen der Arbeit mit Inhalten und Arbeitsanweisungen der Kursdesigner_innen auseinanderzusetzen und stehen im direkten Wettbewerb mit all dem, was sonst auf dem Bildschirm noch zur Verfügung steht. Mit Erklärfilmen und Mobilisierungsvideos unterstütze ich strategische Kampagnenarbeit und verstärke meine Basis. Ein Video von Momentum kann aber nicht Bildung ermöglichen. Mit organisationspolitischem Bezug ist es möglich, analog zu den Bildungsverantwortlichen der IHKen oder den Bildungsberater_innen in den Bereichen Migration, Frauen*, Erwerbslose oder Berufliche Bildung quasi Bildungskader als Multiplikator_innen zu trainieren, die Bildungsbedarfe vermitteln, Referent_innen und Quellen organisieren und als Reflektionsinstrument zwischen Zielgruppen und Trägerinnen der Bildungsarbeit dienen. Hier ist 2019 in Bayern ein Pilotprojekt, auch im gewerkschaftlichen Kontext, gestartet. Die Grenzen sind hier gesetzt durch den schieren Ressourcenaufwand, der denkbar scheint für größere Vertrauensleutestrukturen, aber nicht für die Zielgruppen von Kampagnen oder Parteien, so nicht zufällig eine ortsvereinsähnliche Struktur existiert und die Mitgliedschaft über den Kreis der Funktionär_innen hinaus erreicht.

Das Format, welches eine dialektische Bewegung auslöst und strategische Bildungsarbeit ergänzt, in die Breite trägt und damit für die Bevölkerung wieder einführt, scheint noch nicht gefunden. Es scheint aber als notwendiges, fehlendes Puzzleteil in seinen Umrissen bestimmbar zu sein.

Was die Träger_innen anbieten, ist der strategische Modus, die sie selbst erhält und weiterträgt. Dieser Modus ist beispielhaft verwirklicht im kommunalpolitischen Grundkurs, in der Projektleiterschulung oder im politischen Seminar. Diesem unterstellt sind operative Maßnahmen, die geplant, aber auch situativ eingesetzt werden können. Das mag das PR-Training sein oder ein Teamendenwochenende zu Awareness. Was von Zukunftsdialog über Weiterbildungslotsen und „aufsuchender Bildungsarbeit“ bis zu Blended Learning und berufs- bzw. lebensbegleitender Qualifizierung sich entwickelt, ist nun die noch nicht ausgebildete taktische Dimension.

Taktik, ein – wie Strategie, Kampagne, Etappe oder Kader – militärischer Begriff, ist die Kunst der Gefechtsaufstellung. Sie ist abgegrenzt von der einzelnen spezifischen Tätigkeit wie auch von der politischen und strategischen Grundsatzentscheidung. Taktik ist formal untergeordnet den großen Linien des jeweiligen Entscheidungszentrums. Da die Taktiker_in einerseits vor Ort, andererseits als Kader erhöht steht, bestimmt sich die Erscheinungsform dessen, was hier getan werden soll. Die Taktiker_in ist hier in der subversiven Rolle der Widerspiegelung im Sinne von Heinz Hans Holz: Sie entscheidet nicht über Feind und Freund, sie bestimmt nicht, noch nicht einmal über Zielgruppe und Lernziel. Sie ist am konkreten Ort bei den konkreten Menschen vielleicht als Situationist_in mit Gepäck beschreibbar. Will eine Friedrich-Ebert-Stiftung die Bedeutung von „Europa“ in der Fläche verankert haben, kann sie aus den Themen der Menschen – der letzte Kiosk schließt, der Schulausflug nach Schottland fällt aus, das Logistikzentrum wird nach Rumänien verlegt – die europäische Dimension dieser Themen herausarbeiten, erhält dafür aber Feedback und teilnehmendengesteuerte Bildungsergebnisse, die Europa sogar so begreiflich werden lassen, dass Europa nicht bei der EU aufhört. Diese doppelte Rolle von Ergänzung und Verbreiterung der strategischen Arbeit einerseits und subversiver Abweichung und Transformation der strategischen Ziele im Bildungsprozess andererseits hat eine Entsprechung in der Stadtplanung. Neben der ingenieurtechnischen, raumzentrierten Planung von Gebäuden und Wegen, ergänzt durch informierende und zustimmungsproduzierende Partizipationsveranstaltungen, hat sich über die Jahre der Taktische Urbanismus entwickelt. Mehr der Methode und den Menschen verbunden als der generellen politischen Direktive aus der Struktur bzw. der Behörde ist die taktische Urbanist_in Begleiter_in und Aktivierer_in der Chancen und Energien vor Ort: Als nichtdazugehörige Beteiligte bringt sie Rentner_innen mit Kindern zur gegenseitigen „Betreuung“ zusammen, bringt sie leerstehende, aufgegebene Schulen und Kirchen mit Vereinen und Initiativen zusammen. Sie erfüllt so das Leitziel der Verbesserung des Lebens im Quartier, wird aber zu des Teufels Advokat_in gegenüber der Kommune und wirkt gegen die institutionelle Maßnahme, die ursprünglich so richtig und wichtig war, nun aber in ihrer planerischen Absurdität durch die Aktivierung des Quartiers sichtbar wird.

Vielleicht ist es ein Ziel von politischer Arbeit, von „Bildungsarbeitspolitik“, zu einer solchen taktischen Bildungsarbeit zu kommen. Ausgestattet mit den Linien – Demokratie, Solidarität, Selbstorganisation, Organisationsmacht, … – und im ersten Durchgang mit den bisherigen strategischen Projekten – Kampagne, Sensibilisierungsmaßnahme, Informationsweitergabe im jeweiligen Feld, … – ist die Bildungsarbeiter_in zu Gast im Quartier, im Betrieb, im Protestcamp, auf dem Parteitag. Vom Rassismus in der Umkleidekabine zum Interesse an der Veränderung des Kapitalismus in der ökologisch-digitalen Transformation kann sie aus den Bedarfen im Sinne des Open Space Angebote formulieren und Aktivitäten eine Struktur anbieten. Hier wird Moderieren Können wohl die „Kernkompetenz“ darstellen. Mit der inhaltlichen Beschäftigung wächst das nächste Thema, aber auch im Idealfall das Bedürfnis der Umsetzung der Ergebnisse des Nachdenkens und Nachforschens. Zweiter Outcome dieser taktischen Bildungsarbeit, ob im Skype-Chat oder im Stehkreis vor Beginn der Frühschicht im Betrieb – ist die plurale Rückmeldung der Interessen und welche Form die Bildungsarbeit dazu genommen hat an die Träger_in der Bildungsarbeit, wirkt damit auf das strategische Entscheidungszentrum  von Gewerkschaft, Stiftung, Kampagne, Partei oder Netzwerk.

Ist es möglich, diese taktische Bildungsarbeit aufzubauen, erfüllen wir den alten Begriff der organischen Intellektuellen, nun gegen Ende dieses Textes in unironischer Hinsicht. Sie ist keine Missionar_in mehr, die aus der Gesamtschau der Wahrheit die notwendigen Schritte vor Ort ableitet, sie gibt ganz im Gegenteil der jeweiligen „Wahrheit“ ihre Wirklichkeit, indem sie ihr aus dem Stoff der Auseinandersetzung mit den Menschen ihre. eigentliche Form gibt. Sie löst das unangenehme alte Missverständnis der 11. Feuerbachthese: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Es gibt kein Entweder-Oder von Interpretieren und Verändern. Die philosophische Aufgabe des Verstehens, welches auf das Interpretieren folgt, ist sozial und politisch zu erreichen, in der Veränderung der Welt. Die organische Intellektuelle ist Akteur_in dieses verändernden Verstehens, indem sie die politischen Ideen und politischen Programme mit den Menschen gemeinsam verarbeitet. Die organische Intellektuelle als gegenseitige Vermittlerin löst dann auch die Irritation weiter oben auf, dass die Idee nicht zur materiellen Gewalt wird. Erst diese subversive Taktiker_in stellt die Dialogform des Bildungsprozesses her, die gegenseitige Besprechung, Besinnung, Infragestellung. Schaffen wir den Aufwand einerseits, offene, aufsuchende Bildungsarbeiiter_innen zu unterhalten und schaffen wir es andererseits, unsere eigene Infragestellung zuzulassen, diese sogar zu organisieren, schaffen wir auch die Bedingung der Möglichkeit einer dialektischen Bewegung der Bildung: Eine Aufhebung unserer Selbsterhaltungsarbeit in der Verwirklichungsarbeit unserer politischen Aufgabe.

Und bessere Google Trends für „politische bildung“.


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