Vertrauenskrise

Was wirklich fehlt


10. Januar 2022


Politik und Kommunikation im Deutschen Bundestag

Die westlichen Zivilisationen gelangen an die Grenzen ihrer Menschlichkeit. Der offensichtliche Kampf der Reichen gegen die ärmeren Teile der Bevölkerungen ist jedoch selbst nicht die Ursache, sondern die Folge eines tiefer liegenden Problems. Je weiter die Menschheit ihr Schicksal Maschinen überlässt und sich damit zugleich von der äußeren und inneren, eigenen Natur entfremdet, desto weniger gegenseitiges Vertrauen als Basis jeder Mitmenschlichkeit scheint möglich. Dieses Problem findet im öffentlichen Diskurs jedoch viel zu wenig Widerhall.

Zahlreiche Krisen lähmen den Fortschritt zum Wohle der Vielen. Eine unbewohnbar werdende Erde scheint den meisten Menschen – noch – zu abstrakt, doch selbst für alltägliche Probleme fehlt es schon an utopischer Energie oder zumindest an Vertrauen, daß diese Probleme lösbar wären.

Teilaspekte einer globalen Vertrauenskrise

Klimakrisen und Ökozid werfen seit langem ihre Schatten voraus. Selbst die schlimmsten Annahmen der Wissenschaft über die langfristigen Entwicklungen werden immer wieder übertroffen. Die Pariser Klimaziele sind längst in weite Ferne gerückt. In Deutschland verhindert vor allem ein pervertierter Freiheitsbegriff der Regierungspartei FDP echte Maßnahmen zur wirksamen Begegnung der Klima- und Umweltkrise. Die Marktradikalen träumen von künftigen Innovationen und Technologien als Heilsbringer gegen die Krisen. Freiheit scheint bei ihnen immer nur die Freiheit des, am besten wohlhabenden,  Einzelnen zu sein, nie aber die Freiheit der gesamten Bevölkerung.

Auch in der Coronakrise lässt sich beobachten, dass längst nicht die Freiheit der Vielen gemeint ist. Zurückhaltung unter dem Deckmantel von Liberalismus und Freiheit sorgt für eine zögerliche Umsetzung wirksamer Maßnahmen gegen die Coronakrise. Die eigentliche Sorge ist jedoch viel mehr, dass steigende Staatsausgaben eines Tages unweigerlich zu der Erkenntnis führen könnten, dass diese machbar sind, wenn etwa die krasse sozio-ökonomische Ungleichheit durch eine stärkere Beteiligung von Reichen und Superreichen wenigstens abgemildert werden könnten.

Die Führungsriege der FDP trifft in der Ampelkoalition auf Vertreterinnen und Vertreter der anderen Regierungsparteien, die ebenso um jeden Preis regieren wollen. Zugegeben: die womöglich angestrebten Alternativen scheinen kaum attraktiver, eine wahrhaft progressive Koalition scheint nicht gewollt. Bereits früh haben SPD und Grüne klargestellt, daß sie weite Teile der eigenen Werte aufzugeben bereit wären, solange nur diese Regierung zustande kommen würde.

Sei es Lars Klingbeil, der im Wahlkampf als damaliger SPD-Generalsekretär in feinstem FDP-Sprech große Hoffnungen auf “Innovationen im Kampf gegen die Klimakrise” setzte, sei es Robert Habeck, der schon immer dem Grünkonservativen Winfried Kretschmann näher stand als einer Grünlinken wie Canan Bayram, und der auch früh das Ende aller Flügelkämpfe – und damit implizit den Sieg des Realoflügels seiner Partei –  ausrief. Als Wirtschaftsminister muss Habeck nun zeigen, wie ernst ihm der Kampf gegen den Klimawandel wirklich ist.

Auch in der Pflege herrscht seit langem ein Notstand. Berufsbedingt sind Pflegekräfte und Ärzteschaft eher selten auf Demonstrationen anzutreffen. Doch immer wieder machen ganze Belegschaften auf die katastrophalen Zustände in der Pflege aufmerksam. Bereits im Oktober 2021 wurde damit gerechnet, dass bis 2030 etwa 500.000 Pflegekräfte fehlen würden. Klatschen allein reicht nicht, das ist längst klar. Das Vorhaben, zwar einen bestimmten Pflegebonus auszuzahlen, diesen allerdings auf Pflegekräfte in den Corona-Intensivstationen zu begrenzen, gießt weiter Öl ins ohnehin schwelende Feuer der Spaltung innerhalb der Pflegebranche, jahrelang gut sichtbar zwischen Gesundheits- und Krankenpflegenden auf der einen sowie Altenpflegenden auf der anderen Seite.

Die soziale Gerechtigkeit ist weiter für viele Menschen ein wichtiges Thema, manchmal aus eigener Betroffenheit, vielfach aus der Angst vor dem eigenen Abstieg. Bereits 2010 hieß es beim Spiegel:

“Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst, die deutsche Mittelschicht schrumpft rapide. Soziologen und Ökonomen warnen vor verheerenden Folgen: Sie fürchten soziale Resignation, Elendsquartiere in den Großstädten und eine Zunahme des gesellschaftlichen Gewaltpotentials.”

Die Angst im Sozialstaat beschrieb 2017 eine Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung als eine der Triebfedern für das Wiedererstarken des Rechtspopulismus. Die antisoziale Politik der Agenda 2010 wurde als eine der Hauptursachen in den Mittelpunkt gestellt. Die “Liberalisierung des deutschen Sozialmodells” provozierte “Angstzustände, welche Anpassungsbereitschaften erzeugen, aber zugleich die soziale Integration strapazieren” würden, heißt es in dem Papier. Dadurch seien “minderheitenfeindliche Tendenzen und der Aufstieg rechtspopulistischer Kräfte“ befeuert worden.

Projektion der Angst

Minderheitenfeindliche Tendenzen entluden sich in erschreckender Weise auch im Zuge der Integrationskrise von 2015. Während sämtliche Gründe des Vertrauensverlustes in die Politik durch einen maßgeblichen Teil der Bevölkerung auf Geflüchtete projizierte wurde, transformierte sich die einstige Anti-Euro-Partei Alternative für Deutschland (AfD) zum parlamentarischen Arm deutscher Protofaschisten. Aus dem Stand gewann die Partei bei der Bundestagswahl 2017 etwa 13 Prozent und zog somit erstmals in den Bundestag ein. Einziges Thema war bis dahin die Zuschreibung der Ursachen aller möglichen Problemlagen auf die vermeintlich überfordernde Zuwanderung. Dass es eher an gelingender Integration mangelte und sämtliche Probleme lange vor 2015 bestanden, wurde auf ähnliche Weise ausgeblendet wie später bei der Coronakrise. Das Ende der Menschlichkeit des Westens zeigt sich auch im Mittelmeer, an der Grenze zwischen Polen und Belarus, in den Notlagern von Griechenland bis zur Türkei, überall dort, wo die Europäische Union Menschen in Not abweist, dem drohenden Tode preisgibt.

Der Umstand, dass den teils gewaltsamen Entladungen des Vertrauensverlustes kaum negative Konsequenzen für Täter und Ermöglicher folgten, dürfte im kollektiven Unbewussten eine Ahnung hinterlassen haben, was den Einzelnen selbst drohen könnten, sollten sie einmal ins Zentrum gesellschaftlicher Ängste geraten


EMPFEHLUNG DER REDAKTION


All diese Teilaspekte der globalen Krise lassen jedenfalls eindrucksvoll erahnen, wie tief der gesellschaftlich-individuelle Vertrauensverlust reicht. Stellvertretend mag das allgemeine Achselzucken als Reaktion auf die Annahme, dass es den Kindern der heutigen Generation einst nicht besser gehen wird, als einem selbst, ein Hinweis auf die Resignation sein.

Keine Utopien, nirgends …

Niemand, der ausreichend über den Zustand der Welt reflektiert, wird letztlich bestreiten können, dass praktisch alle drängenden Probleme der Menschheit auf die Ich-Bezogenheit weniger zurückzuführen sind. Freiheit muss für die Vielen gelten, nicht für die Wenigen!

Die politische Linke in Deutschland, spätestens durch die Volten von Gerhard Schröder und Joschka Fischer in ihren Parteien und der Gesellschaft erheblich geschwächt, präsentiert kaum erfreuliche Zukunftsentwürfe. Vielmehr scheinen jene Kräfte eher Interesse daran zu haben, die Annahme von Jürgen Habermas aus den 1980er Jahren stützen zu wollen, wonach es in der Politik kaum noch utopische Energie gäbe.

Die Partei Die Linke zerlegt sich nach der verlorenen Bundestagswahl 2021 indes weitestgehend selbst. Während bereits am Tag danach verkündet wurde, nun müsse alles analysiert und vor allem neu gemacht werden, agiert das selbe glücklose Personal im Raum der immergleichen Ideenlosigkeit. Dies bemängelte auch die im Januar 2022 aus der Partei ausgetretene Christa Luft, letzte Wirtschaftsministerin der DDR. Weder Analyse noch Selbstkritik habe sie wahrgenommen, schrieb sie in einem Brief an die Parteiführung.

Statt Zukunftsentwürfe zu zeichnen, mit denen sich weite Teile der Bevölkerung identifizieren könnten, arbeitet man sich eher an der Deutungshoheit über bestimmte Begrifflichkeiten ab. Es wird zu wenig berücksichtigt, gegen welch breite Front hier auf kognitiver Ebene argumentiert werden muss, wo es doch eigentlich darum gehen müsste, die “Herzen” der Menschen zu erreichen: ihr Vertrauen.

Der britische Historiker Harold James wies im Tagesspiegel auf Folgendes hin:

“Zum Beispiel beschrieben Kapitalismus und Sozialismus ursprünglich sich kontinuierlich fortentwickelnde Arten des Verständnisses davon, wie die Welt organisiert war oder sein sollte. Inzwischen haben sie sich in bloße Schreckensbegriffe verwandelt. Die eigene Seite im Kulturkampf wird dadurch bestimmt, ob man mehr Angst vor dem Sozialismus oder dem Kapitalismus (oder Iterationen wie dem „Hyperkapitalismus“ oder dem „woken Kapitalismus“) hat.”

Ein neues Morgen

Die politische Linke braucht ein Programm, um zu gewinnen. Klare und für jeden nachvollziehbare Ziele, die etwas mit der Lebenswirklichkeiten der Vielen zu tun haben. Das bloße Anbiedern an die Kräfte des Kapitals und das sich stets wiederholende Enttäuschen der Vielen, der Fokus auf innere Auseinandersetzungen, lassen kein Vertrauen entstehen. Auch abgehobene Diskurse, in denen künstlich Widersprüche zwischen Autonomie und Zugehörigkeit erzeugt werden, etwa durch das Ausspielen von Identität gegen die Interessen der Massen, lässt keine aufrichtigen Absichten erahnen.

Wahrhaftigkeit aber ist die erste Bedingung für die Bildung von Vertrauen. Daher müsste als Erstes benannt werden, welche Ziele notwendig und welche inneren Bedingungen hinderlich sind, ohne sich dabei von Angst und Ich-Bezogenheit Weniger leiten zu lassen. Schonungslose Transparenz, sozusagen. Unehrlichkeit und Ich-Bezogenheit kann getrost den Kräften des Kapitals überlassen bleiben. Für die Befreiung der Vielen ist das untauglich.


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