Angst im Sozialstaat

Der Aufstieg der Rechten


1. August 2023


Politik und Kommunikation im Deutschen Bundestag

In einer Zeit, in der Angst und Unsicherheit vor dem sozialen Abstieg sowie vor multiplen Krisen wie dem Klimawandel und Covid-19 tief in den Mittelstand eindringen, verzeichnet Europa, und insbesondere Deutschland, einen beunruhigenden Anstieg rechtspopulistischer und rechtsextremer Gruppen. Die Frage, die sich nun stellt, ist: Was kann die Politik tun, um diesen Aufstieg zu stoppen?

Soziale Angst und politische Unruhe: Die Wurzeln des Problems

Vor dem Hintergrund der Globalisierung und ihrer Auswirkungen erleben viele Menschen in Europa und insbesondere in Deutschland eine zunehmende soziale Unsicherheit. Dies wird durch die Folgen des Klimawandels und der Covid-19-Pandemie noch verstÀrkt.

Die Arbeit von Robert D. Putnam, einem amerikanischen Politikwissenschaftler, liefert ein wertvolles Framework zur Untersuchung dieses PhĂ€nomens. Putnam argumentiert in seinem Buch „Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community“ (2000), dass das GefĂŒhl der Zugehörigkeit und Gemeinschaft in der modernen Gesellschaft abnimmt, was zu einem Anstieg der Angst und Unsicherheit fĂŒhrt.

Die Soziologin Saskia Sassen spricht in ihrem Werk „Expulsions: Brutality and Complexity in the Global Economy“ (2014) Ă€hnliche Themen an. Sassen argumentiert, dass die neoliberale Globalisierung zur Marginalisierung und Ausgrenzung von Menschen fĂŒhrt, was zu Unsicherheit und sozialer Unruhe fĂŒhrt.

Reaktion auf die Krisen

In diesem Kontext wird der Aufstieg rechtspopulistischer und rechtsextremer Gruppen als Reaktion auf die gefĂŒhlte Bedrohung und Unsicherheit interpretiert. Cas Mudde, ein renommierter Experte fĂŒr rechtspopulistische Bewegungen, argumentiert in seinem Buch „Populist Radical Right Parties in Europe“ (2007), dass diese Gruppen eine Reaktion auf die wahrgenommene Bedrohung der nationalen IdentitĂ€t und der sozialen StabilitĂ€t darstellen.

In Deutschland ist die Alternative fĂŒr Deutschland (AfD) ein klares Beispiel fĂŒr diese Entwicklung. Die Partei, die ursprĂŒnglich als Reaktion auf die Eurokrise gegrĂŒndet wurde, hat in den letzten Jahren zunehmend rechtspopulistische und rechtsextreme Positionen eingenommen. Dabei hat sie die Ängste und Unsicherheiten der Bevölkerung geschickt fĂŒr ihre politische Agenda genutzt.

Ein wichtiger Faktor, der bei der Analyse des Aufstiegs der AfD nicht ĂŒbersehen werden darf, ist die EinfĂŒhrung der Agenda 2010 durch die SPD unter Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahr 2003. Die Reformen, die unter den Stichworten Hartz IV und „Fördern und Fordern“ bekannt wurden, haben das deutsche Sozial- und Arbeitsmarktsystem tiefgreifend verĂ€ndert und sind bis heute Gegenstand kontroverser Debatten.

Die Agenda 2010 fĂŒhrte zu einer Ausweitung des Niedriglohnsektors und etablierte ein System der ArbeitslosenunterstĂŒtzung, das von vielen als repressiv und entwĂŒrdigend wahrgenommen wird. Der Soziologe Klaus Dörre hat in mehreren Studien aufgezeigt, dass die Reformen eine zunehmende Prekarisierung der Arbeit und eine Ausdehnung der Armut trotz BeschĂ€ftigung zur Folge hatten.

Dies hat tiefe Unsicherheit und Unzufriedenheit in großen Teilen der Bevölkerung ausgelöst und den Boden fĂŒr den Aufstieg der AfD bereitet. Die Partei hat die Ängste und Frustrationen der Betroffenen aufgegriffen und in eine anti-establishment- und anti-europĂ€ische Rhetorik eingebettet.

Die Agenda 2010 ist ein anschauliches Beispiel dafĂŒr, wie wirtschaftliche Entscheidungen politische Auswirkungen haben können. Die Reformen, die ursprĂŒnglich dazu gedacht waren, die WettbewerbsfĂ€higkeit Deutschlands zu stĂ€rken und die Arbeitslosigkeit zu reduzieren, haben in Wirklichkeit viele Menschen in unsichere und schlecht bezahlte Jobs gedrĂ€ngt.

In dieser Hinsicht unterstĂŒtzt die Geschichte der Agenda 2010 die Argumentation von soziologischen Theoretikern wie Guy Standing, der in seinem Buch „The Precariat: The New Dangerous Class“ (2011) argumentiert, dass Neoliberalismus und Arbeitsmarktreformen zur Entstehung einer neuen sozialen Klasse fĂŒhren – des Prekariats, das durch Unsicherheit und InstabilitĂ€t gekennzeichnet ist und anfĂ€llig fĂŒr rechtspopulistische und rechtsextreme Bewegungen ist.

Die Gefahren der Einbindung rechtsextremer Parteien

Aus marxistischer Perspektive ist die Einbindung und Normalisierung rechtsextremer Parteien ein gefĂ€hrlicher Trend, der das Potenzial hat, die materiellen und sozialen Bedingungen der Arbeiterklasse weiter zu verschlechtern und die soziale Ungleichheit zu verstĂ€rken. Die zentrale marxistische Analyse der Gesellschaft ist die Betrachtung von KlassenverhĂ€ltnissen und Machtstrukturen, und von dieser Warte aus kann der Aufstieg und die Normalisierung rechtsextremer Parteien als VerschĂ€rfung der bestehenden Ausbeutungs- und UnterdrĂŒckungsmechanismen verstanden werden.


EMPFEHLUNG DER REDAKTION


Rechtsextremismus und die Verschiebung des politischen Diskurses

Die Normalisierung rechtsextremer Parteien fĂŒhrt oft zu einer Verschiebung des gesamten politischen Diskurses nach rechts. Dies war beispielsweise in Ungarn zu beobachten, wo die rechtsextreme Partei Fidesz nach ihrer Einbindung in die Regierung in der Lage war, die politische Agenda in eine zunehmend nationalistische und autoritĂ€re Richtung zu lenken. Aus marxistischer Perspektive kann dies als eine Ablenkung von den eigentlichen sozioökonomischen Problemen gesehen werden, wie der zunehmenden sozialen Ungleichheit und der Ausbeutung der Arbeiterklasse. Stattdessen werden Minderheiten, Migranten und andere Marginalisierte oft als SĂŒndenböcke dargestellt und fĂŒr soziale Probleme verantwortlich gemacht.

Entmachtung der Arbeiterklasse

Die Einbindung rechtsextremer Parteien kann zu einer weiteren Entmachtung der Arbeiterklasse fĂŒhren. Rechtsextreme Parteien neigen oft dazu, Gewerkschaften und andere Formen der Arbeiterorganisation zu untergraben, und fördern stattdessen ein individualistisches und marktorientiertes Wirtschaftssystem. Dies war beispielsweise in Brasilien zu beobachten, wo die rechtsextreme Regierung unter PrĂ€sident Bolsonaro eine Reihe von Maßnahmen ergriffen hat, um die Macht der Gewerkschaften zu schwĂ€chen und die Rechte der Arbeiter zu untergraben.

Zunahme rassistischer und fremdenfeindlicher Politiken

Die Einbindung und Normalisierung rechtsextremer Parteien fĂŒhrt oft zur Verbreitung von rassistischen und fremdenfeindlichen Politiken, die die SolidaritĂ€t unter der Arbeiterklasse untergraben und die Arbeiter gegeneinander ausspielen. Dies ist ein direkter Angriff auf den marxistischen Grundsatz der internationalen SolidaritĂ€t der Arbeiterklasse und dient dazu, die Aufmerksamkeit von den eigentlichen Ursachen der sozialen und wirtschaftlichen Probleme abzulenken.

Eine Agenda gegen den Aufstieg der Rechten

Es gibt eine Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit den Auswirkungen von Sozialstaatsreformen auf den Erfolg nationalistischer und rechtsextremer Bestrebungen beschĂ€ftigen. Diese Forschung zeigt oft, dass wirtschaftliche Unsicherheit und wahrgenommene Ungleichheit ein fruchtbarer NĂ€hrboden fĂŒr solche Bewegungen sind.

Ein prominentes Beispiel ist die Arbeit des Ökonomen David Rueda, der in seiner Forschung zeigt, dass in LĂ€ndern mit starken Sozialstaaten und niedriger Ungleichheit nationalistische und rechtsextreme Bewegungen tendenziell weniger erfolgreich sind. In seiner Arbeit „Who Votes for the Radical Right in Western Europe?“ (2018) argumentiert Rueda, dass arbeitslose und prekĂ€r BeschĂ€ftigte in LĂ€ndern mit großzĂŒgigen Sozialleistungen weniger wahrscheinlich rechtspopulistische Parteien wĂ€hlen.

Ein weiterer wichtiger Beitrag stammt von dem Soziologen Armin SchĂ€fer. In seiner Arbeit „Der Wohlfahrtsstaat und die Rechte“ (2016) argumentiert SchĂ€fer, dass die Deregulierung des Arbeitsmarktes und der Abbau des Wohlfahrtsstaates die Unsicherheit und Ängste der Menschen verstĂ€rken und so den Boden fĂŒr den Erfolg rechtspopulistischer Bewegungen bereiten.

Schließlich hat die Soziologin Karin Priester in ihrer Arbeit „Rechtspopulismus als ‚BĂŒrgerbewegung‘: Kampagnen gegen Islam und Moscheebau und kommunale Gegenstrategien“ (2007) untersucht, wie rechtspopulistische Bewegungen die Unzufriedenheit mit sozialen VerĂ€nderungen und Unsicherheit ausnutzen, um UnterstĂŒtzung zu mobilisieren.

Um den Aufstieg der AfD und Ă€hnlicher Bewegungen zu stoppen, ist es daher unerlĂ€sslich, dass die Politik die sozialen und wirtschaftlichen Ursachen der Unzufriedenheit und Angst ernst nimmt und Maßnahmen ergreift, um den Niedriglohnsektor zu begrenzen, das Sozialsystem zu stĂ€rken und Arbeitslose besser zu unterstĂŒtzen. Dies könnte durch eine Kombination aus Mindestlohnsteigerungen, stĂ€rkerer Arbeitnehmerbeteiligung, verbesserten Sozialleistungen und einer umfassenden Bildungs- und Ausbildungsstrategie erreicht werden.

Die Herausforderung besteht darin, eine Politik zu entwickeln, die nicht nur ökonomisch sinnvoll, sondern auch sozial gerecht ist. Dies erfordert eine Abkehr von der reinen Marktorientierung hin zu einem Ansatz, der das Wohl der Menschen in den Mittelpunkt stellt. Nur so kann die Politik das Vertrauen der Bevölkerung zurĂŒckgewinnen und den Aufstieg der Rechten stoppen.


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