Demokratie

Kontrolle und Ohnmacht


14. Dezember 2019


Politik und Kommunikation im Deutschen Bundestag

I. Der alltägliche Wahnsinn

Burnout, Depression, Angststörungen – Immer mehr Menschen werden wegen psychischer Leiden berufsunfähig. Selbst unsere Kinder stehen immer stärker unter Druck, entwickeln – oft unbemerkt – Depressionen. Es ist mittlerweile unumstritten, dass Depressionen die Lebenserwartung der Menschen verkürzen. Die größte Angst der Deutschen ist jene, keine Kontrolle über das eigene Leben mehr zu haben„. Sichtbar wird dies an immer weiter um sich greifenden Ängsten vor dem sozialen Abstieg durch den Verlust des Arbeitsplatzes oder auch vor Armut und Krankheit im Alter. Pflegebedürftigkeit bedeutet ebenfalls Kontrollverlust. Die häufig geschilderten Zustände in der Pflege sind keinesfalls geeignet, hier Ängste zu nehmen.

Auch die politischen Entwicklungen haben eher Angsttreiber verstärkt, statt Ängste zu nehmen. Insbesondere die Politik der Agenda 2010 hat zu tiefen Ängsten vor sozialem Abstieg und damit verbundenem Kontrollverlust geschürt, nachdem es zuvor stets erklärtes Ziel der Sozialdemokratie war, soziale Verbesserungen zu erstreiten. In der Studie „Angst im Sozialstaat“ der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung heißt es dazu:

„Von kaum jemandem wird angezweifelt, dass der Ausbau des Sozialstaats im 20. Jahrhundert den gesellschaftlichen Zusammenhalt befördert hat, indem dieser das „Humankapital“ pflegte, die Arbeitskraft vor den Unbilden der Wett- bewerbsökonomie schützte und damit die Legitimation des in Deutschland als „soziale Marktwirtschaft“ apostrophierten Wohlfahrtskapitalismus sicherte.[…] Tatsächlich brachte die o.g. Reformagenda (Agenda 2010, Anm. Des Verf.) beides: eine institutionelle und diskursive Mobilisierung von Ängsten, was einerseits ihre reibungslose Umsetzung begünstigte, andererseits jedoch Desintegrationsdynamiken befördert.“

Diese Desintegrationsdynamiken, so die Autoren der Studie weiter, erklären auch den Wiederaufstieg des Rechtspopulismus.

Wähler der rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) erklären häufig, sie wollten den „Alt-Parteien“, der etablierten Politik, einen Denkzettel verpassen. In den Jahrzehnten zuvor war es in Ostdeutschland, vor allem die Linkspartei, die aus Protest – gegen den Eindruck des Verlusts an sozialer Sicherheit nach der Wende – gewählt wurde.

Das überrascht nicht. Kontrollverlust löst Angst, Wut und Widerstand aus. Führt die so freigesetzte psychische Reserveenergie nicht zur Wiedererlangung des Gefühls von Kontrolle, schlagen diese Gefühle um in Frustration, in Hilflosigkeit und Resignation.

II. Soziale Netzwerke als Brenngläser für gesellschaftliche Stimmungen

Die technologischen Umwälzungen verleihen innengesellschaftlichen Kommunikationsprozessen eine deutlich höhere Sichtbarkeit. In der Historie unterhielten nahezu alle Staaten eigene Dienste, welche Stimmungen in der Gesellschaft erfassen sollten. Dadurch, so die Hoffnung, sollte auf entstehende Gegenbewegungen reagiert werden. Je repressiver die Staaten verfasst waren, desto mehr Aufwand wurde betrieben, gegensätzliche Meinungen – auch mit Gewalt – zu unterdrücken, also der öffentlichen Sichtbarkeit zu entziehen.

Die Hasskommentare, Verleumdungen und Gewaltaufrufe in sozialen Netzwerken sollten als Reaktionen auf empfundener Angst vor Kontrollverlust verstanden werden. Zufriedene Menschen haben in der Regel kein Bedürfnis nach Erniedrigung Anderer. Je größer eine Spaltung der Gesellschaft wahrgenommen wird, etwa in arm und reich durch zunehmende soziale Verwerfungen, desto gefährlicher werden die Gegenreaktionen. Der Mord an Walter Lübcke scheint ein drastisches Beispiel dafür zu sein, wohin solche möglichen Gegenreaktionen führen können. Diese Auswüchse können nur im gesellschaftlichen Kontext betrachtet werden. Die Reduzierung auf Theorien verwirrter Einzeltäter ist mitnichten hilfreich, wenn über die Entstehungsbedingungen solcher Exzesse nicht nachgedacht und geforscht wird.

III. Politischer Kontrollverlust

Nach Jahrzehnten neoliberaler Politik hat sich in weiten Teilen der Gesellschaft der Eindruck verfestigt, mit der Stimmabgabe bei Wahlen kaum noch einen Unterschied der Regierungspolitik bewirken zu können. Sichtbar wird dies an tendenzieller Abnahme der Wahlbeteiligungen einerseits sowie an der starken Zunahme der Wahlerfolge der Rechtspopulisten andererseits. Der Eindruck des Kontrollverlustes von weiten Teilen der Bevölkerung wird noch dadurch verstärkt, dass selbst in offiziellen Berichten der Bundesregierung deutlich wird, dass ein direkter Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Stellung und Einflussmöglichkeit auf die Politik besteht. Je ärmer, desto weniger Kontrolle.

Bei den letzten Landtagswahlen in der Bundesrepublik hat vor allem die AfD hinzugewonnen, die sich den Anschein einer Gegenbewegung zur bisherigen, oft als „alternativlos“ kommunizierten Politik gab. Einer der wesentlicher Treiber war auch hier die Angst vor Kontrollverlust, etwa durch Übertragung nationaler Souveränität an die EU. Undemokratische Tendenzen, etwa bei den Verhandlungen zu TTIP, dürften diesen Eindruck verstärkt haben.

Jüngst hat in Großbritannien vor allem diese Angst zu einem haushohen Sieg der Tories um Boris Johnson geführt, dessen einzig klares Versprechen in der schnellen Umsetzung des Austritts des britischen Königreiches aus der Europäischen Union bestand. Das Wohlfahrtsprogramm der Labour-Partei hatte gegen die Angst vor dem Kontrollverlust auf zwischenstaatlicher Ebene offensichtlich keine Chance.

IV. Simulation von Kontrolle

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen hin zu einem mindestens empfundenen Kontrollverlust durchdringt Technologie jeden Aspekt des Lebens, um Bequemlichkeit zu vermitteln, vor allem aber, um das Gefühl von Kontrolle zu geben.

Auf den Smartphones finden sich jede Menge Apps mit unzähligen Schaltern, Formularen und überhaupt Möglichkeiten, die Umgebung zu beeinflussen. Von zeit- und ortsversetzter Kommunikation zwischen Menschen, bis hin zum Bedienen von Lichtschaltern und Haushaltsgeräten. Perfekte Kontrolle. Scheinbar.

Interlude: Matrix reloaded.

Neo: „Aber wir kontrollieren diese Maschinen. Sie kontrollieren nicht uns.“

Senator Hamann: „Natürlich nicht. Wie könnten sie. Die Idee ist purer Unsinn, aber es führt einen doch zu der Frage: Was ist Kontrolle?“

Neo: „Wenn wir wollten, dann könnten wir diese Maschinen abschalten!“

Senator Hamann: „Ja, natürlich, das ist es. Ganz genau. Das ist Kontrolle, nicht wahr? Wenn wir wollten, könnten wir sie in Stücke schlagen. Obgleich wir überlegen müssten, wenn wir es täten, was passiert dann mit unserem Licht, unserer Heizung, unserer Luft?“

Die Akzeptanz für Kontrollverlust steigt mit dem Gefühl der sozialen Bestätigung. Nicht von ungefähr ersetzen Konzerne gezielt das Gefühl fehlender sozialer Bindungen durch „Beziehungen“ zu ihren Marken. App-Entwickler nutzen Techniken, wie „Infinite Scroll“ und „Pull to refresh“ sowie Likes als „Feedback-Schleife der sozialen Bestätigung“. Die so manipulierten Nutzer verbringen so immer mehr Zeit mit ihren Geräten, statt sich den drängenden Fragen der Zeit zuzuwenden. In einer Studie der California State University konnten Forscher nachweisen, dass bereits wenige Minuten ohne Smartphone Herzfrequenz und Blutdruck ansteigen lassen.

V. Kontrollverlust und Überwachung

Die Umkehrung der Simulation von Kontrolle durch Technik liegt in den Möglichkeiten der technischen Überwachung, wie sie etwa durch den Mut von Menschen wie Edward Snowden öffentlich wurde. Jedes Endgerät bietet Möglichkeiten der Überwachung, welcher ein durchschnittlicher Nutzung kaum abzustellen vermag. Die gesellschaftliche Akzeptanz ist extrem hoch, die Geräte sind allgegenwärtig.

In den sich selbst als offene Gesellschaften bezeichnenden Systemen des Westens hat die Überwachung die Angst vor dem Verlust staatlicher Kontrolle als Ursache. Diese Angst wird medial unablässig reflektiert und verstärkt. Erst dadurch entsteht die Akzeptanz für solche Maßnahmen.

VI. Kontrollverlust durch Neoliberalismus und Globalisierung

Das Erstarken von Umweltbewegung, Feminismus und radikaldemokratischen Überlegungen ab dem Ende der 1970er Jahre provozierte einen Gegenschlag gesellschaftlicher Eliten. Insbesondere wurde dies durch den Aufstieg der britischen Premierministerin Margret Thatcher ab 1979 deutlich.

Dazu schreibt Dubiel (2002) in der ZEIT:

„Dahinter steckt ein technokratisches Weltbild, demzufolge es für die Entwicklung moderner Gesellschaften nur einen einzigen Pfad gibt, – einen Pfad, der durch die stummen Zwänge der Weltwirtschaft, der wissenschaftlich-technischen Entwicklung und der staatlichen Bürokratie vorgezeichnet ist. Die konservative britische Premierministerin Thatcher, in vielerlei Hinsicht die Mutter des Rechtspopulismus, hat dieses Weltbild auf die simple, aber einprägsame Formel gebracht: There Is No Alternative – es gibt keine Alternative. In ironischer Absicht spricht man noch heute, gestützt auf die Anfangsbuchstaben, vom „Tina-Prinzip“.“

Der Verlust des Primats der Politik und der damit verbundenen Entpolitisierung weiter Teile der Bevölkerungen muss als Gefahr für die Demokratien verstanden werden.

Seit Mitte der 1990er Jahre warnen Experten verschiedener Fachgebiete vor aufziehenden gravierenden Defekten demokratischer Systeme. Im Jahre 2003 veröffentliche der britische Professor Colin Crouch seine These der Post-Demokratie. In diesem Modell existieren demokratische Hüllen, Einfluss der Bürger aber ist nicht mehr gefragt.

Der weit voraus schauende Ralf Dahrendorf formulierte 1997 in Die Zeit:

„Ein Jahrhundert des Autoritarismus ist keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose für das 21. Jahrhundert.“

Die Nebenwirkungen der Globalisierung schaffen Probleme, denen mit normalen demokratischen Methoden abzuhelfen schwierig ist. Schon die Erhaltung von Recht und Ordnung ruft beinahe unweigerlich autoritäre Maßnahmen auf den Plan.

Der „Dritte Weg“ der Sozialdemokratie, gekennzeichnet etwa durch das Schröder-Blair-Papier, die Hinwendung eigentlich linker Volksparteien zum Neoliberalismus, hat diese Entpolitisierung ebenso verstärkt, wie die oben beschriebene Angst vor dem Kontrollverlust.

VII. Soziale Verwerfungen und Klimawandel als Chance?

Die durch solche Politik verstärkte soziale Ungleichheit hat, wie oben aufgezeigt, massive Ängste vor Kontrollverlust zur Folge. Hinzu kommt nun die Angst vor der ökologischen Katastrophe – eine existenzielle Krise der gesamten Menschheit droht.

In dieser Ausgangslage wird deutlich, dass es dringend einer Umsteuerung bedarf. Die soziale und die Klimafrage sind gleichwertig die drängendsten Probleme unserer Zeit. Zugleich besteht in dieser Lage die Chance, sich als Menschheit zu begreifen und gemeinsam Lösungen zu entwickeln.

Dafür braucht es radikale Umwälzungen in den Lebensweisen der westlichen Zivilisationen, welche hauptverantwortlich sowohl für die globalen sozialen Verwerfungen sind, als auch für die Klimakatastrophe.

Rechte Kreise leugnen diese Probleme oder suchen ihr Heil ausschließlich in nationalen Lösungen. Dies kann bei einem Problem dieses weltweiten Ausmaßes nicht funktionieren.

Politik müsste gewillt sein, sich tatsächlich den Bedürfnissen von Mensch und Natur zu widmen, statt das Streben nach kurzzeitigen Profiten für Minderheiten zu ermöglichen. Hierzu braucht es radikale soziale Maßnahmen.

Um sich den rechten Bewegungen entgegenzustellen, wäre eine geeinte politische Linke mehr als notwendig. Wir brauchen soziale Lösungen, wirksamen Klimaschutz und internationale Solidarität.

Es muss wieder einen Unterschied machen, wer in den Parlamenten sitzt und dort regiert, zum Wohle der Vielen, statt der Wenigen. Davon sind wir allerdings weit entfernt, wenn sich prominente Vertreter der politischen Linken lieber den eigenen Machtansprüchen widmen, ohne den politischen Gestaltungsraum zu nutzen – und wenn jene, die Politik eigentlich kontrollieren sollen, selbst den Verwertungslogiken unterworfen sind, die es zu überwinden gilt.


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