Sozialistische Politik

Adornos verwaltete Welt und simulative Demokratie


28. Juli 2023


Politik und Kommunikation im Deutschen Bundestag

Theodor Adorno malte das Bild einer „verwalteten Welt“, in der moderne kapitalistische Gesellschaften durch bürokratische Systeme und Verfahren kontrolliert und geregelt werden. Adornos Welt ist eine, in der Individuen zu passiven Konsumenten werden, eingefangen in einem System, das ihre Bedürfnisse und Wünsche formt. Der Aufstieg des Neoliberalismus seit den 1980er Jahren hat diese Vision in beunruhigender Weise Wirklichkeit werden lassen. Marktmechanismen und Unternehmenslogiken sind tief in das soziale Gefüge eingedrungen und haben zu einer Entstaatlichung und Kommodifizierung von Bereichen des öffentlichen Lebens geführt, von Bildung bis Gesundheit.

Der Neoliberalismus und die Auswirkungen auf die politische Organisation

Die Durchdringung neoliberaler Diskurse und Praktiken hat das Bewusstsein für Alternativen zum Kapitalismus erheblich geschwächt. Innerhalb der „verwalteten Welt“ erscheint der Kapitalismus als natürliche, unvermeidliche Ordnung der Dinge. Die Verwandlung von Bürgern in Konsumenten hat auch tiefgreifende Auswirkungen auf das politische Engagement. Politisches Handeln wird oft durch Konsumentscheidungen ausgedrückt – durch „ethischen Konsum“ oder „politischen Boykott“. Diese Formen des Widerstands können das Potential für kollektives, organisiertes Handeln zur Herausforderung des kapitalistischen Systems untergraben.

Postdemokratie und simulative Demokratie: Neue Perspektiven auf die verwaltete Welt

Die Theorien von Colin Crouch und Ingolfur Blühdorn bieten weitere Einblicke in das Dilemma der politischen Organisierung innerhalb der „verwalteten Welt“. Colin Crouchs Theorie der Postdemokratie stellt eine tiefgreifende Kritik an den gegenwärtigen Zuständen westlicher Demokratien dar. Crouch behauptet, dass wir uns in einer Phase der „Postdemokratie“ befinden, in der zwar demokratische Institutionen und Verfahren bestehen bleiben, aber die tatsächliche politische Macht von einer kleinen Elite und mächtigen Interessengruppen ausgeübt wird. Politische Entscheidungen werden zunehmend in einem engen Kreis von Wirtschaftseliten, Politikern und Technokraten getroffen, während die breite Öffentlichkeit weitgehend ausgeschlossen bleibt.

Crouchs These hat eine intensive Debatte in der politischen Theorie ausgelöst. Einige Kritiker, wie beispielsweise Wolfgang Merkel, argumentieren, dass Crouch eine zu pessimistische und einseitige Sicht auf die gegenwärtigen Demokratien hat. Sie betonen, dass es weiterhin Raum für partizipative Politik und Bürgereinbeziehung gibt, besonders auf lokaler Ebene und durch neue Formen der digitalen Partizipation.

Andererseits gibt es auch viele Autoren, die Crouchs These unterstützen. Autoren wie Jürgen Habermas oder Nancy Fraser argumentieren, dass die Diagnose der Postdemokratie wichtige Einsichten in die Probleme und Herausforderungen moderner Demokratien liefert. Sie betonen, dass demokratische Institutionen in vielen westlichen Ländern zunehmend von ökonomischen Machtverhältnissen und elitären Interessengruppen dominiert werden, was eine ernsthafte Bedrohung für die demokratische Legitimität und Gerechtigkeit darstellt.

Jacques Rancière eine differenziertere Sicht auf die Postdemokratie vorgeschlagen. Er argumentiert, dass die Postdemokratie nicht einfach als eine Periode des Niedergangs oder der Degeneration der Demokratie gesehen werden sollte, sondern als eine spezifische Form der politischen Ordnung, die auf der Spannung zwischen demokratischer Partizipation und oligarchischer Herrschaft beruht.

Ebenso hat der Soziologe Wolfgang Streeck das Konzept der „konsolidierten Demokratie“ vorgeschlagen, um die aktuellen Entwicklungen in den westlichen Demokratien besser zu verstehen. Streeck argumentiert, dass in vielen Ländern ein neuer Typ von Demokratie entsteht, der durch eine enge Verbindung von Wirtschafts- und Politikeliten gekennzeichnet ist und in dem die Möglichkeiten für breite, inklusive Partizipation zunehmend eingeschränkt sind.

Die Debatte um die Postdemokratie zeigt, dass Crouchs These wichtige und provokative Fragen über den Zustand unserer gegenwärtigen Demokratien aufwirft. Während es Kritik an seinen Thesen gibt, bieten sie eine wichtige Perspektive auf die Herausforderungen und Probleme, mit denen moderne Demokratien konfrontiert sind. Darüber hinaus haben neuere Theorien, wie die von Rancière oder Streeck, das Konzept der Postdemokratie erweitert und verfeinert und bieten neue Wege, um die Komplexität und Ambivalenz unserer gegenwärtigen politischen Landschaft zu verstehen.

Blühdorns Konzept der simulativen Demokratie

Blühdorns Konzept der „simulativen Demokratie“ geht noch weiter und argumentiert, dass die gegenwärtige politische Ordnung nicht nur die Kontrolle über die Bürgerinnen und Bürger ausübt, sondern auch deren Zustimmung durch die Simulation von Partizipation und Inklusion gewinnt. Die „simulative Demokratie“ ist eine, in der das Gefühl der politischen Einbeziehung und Teilhabe erzeugt wird, obwohl reale politische Einflussnahme und Veränderung zunehmend eingeschränkt sind. In einer simulativen Demokratie bleiben demokratische Institutionen und Verfahren erhalten, jedoch dienen sie vorwiegend der Simulation von Partizipation und Inklusion, während echte politische Einflussnahme und Veränderung eingeschränkt sind. In dieser Konzeption wird der demokratische Prozess mehr und mehr zu einer „Show“, während tatsächliche Macht und Entscheidungsfindung auf eine kleine Elite übergehen.

Blühdorns These hat eine breite und vielfältige Reaktion in der politischen Theorie hervorgerufen. Kritiker wie Pierre Rosanvallon argumentieren, dass Blühdorn eine übermäßig dystopische und pessimistische Sicht auf die gegenwärtigen Demokratien einnimmt. Sie betonen, dass trotz der Herausforderungen und Probleme, die von Blühdorn identifiziert wurden, demokratische Gesellschaften immer noch Raum für Partizipation, Dissens und Wandel bieten. Bernsee (2015) hebt hervor, dass Blühdorn die Entstehungsbedingungen der simulativen Demokratie nicht ausreichend beleuchten würde.

Autoren wie Slavoj Žižek und Chantal Mouffe hingegen gehen davon aus, dass die Theorie der simulativen Demokratie ein treffendes Bild der aktuellen politischen Landschaft bietet. Sie betonen, dass demokratische Praktiken und Diskurse oft mehr der Legitimierung und Absicherung der bestehenden Ordnung dienen, als tatsächlichen gesellschaftlichen Wandel zu ermöglichen.

Einige jüngere Arbeiten haben versucht, das Konzept der simulativen Demokratie weiter zu entwickeln und zu verfeinern. Ein Beispiel ist die Arbeit von Jan-Werner Müller, der das Konzept der „Fassadendemokratie“ entwickelt hat. Müller argumentiert, dass in vielen westlichen Ländern eine neue Form der politischen Ordnung entsteht, die demokratische Verfahren und Institutionen nutzt, um eine autoritäre Herrschaft zu verbergen und zu legitimieren.


EMPFEHLUNG DER REDAKTION


Eine weitere wichtige Perspektive bietet Yannis Stavrakakis mit seinem Konzept der „leeren Demokratie“. Stavrakakis argumentiert, dass die gegenwärtigen Demokratien zunehmend durch eine „Leerheit“ gekennzeichnet sind, in der demokratische Prozesse und Diskurse ihrer politischen Substanz entleert und in rein formale, ritualisierte Praktiken umgewandelt werden.

Herausforderungen und Chancen für die sozialistische politische Organisation

Angesichts dieser Diagnose muss die linke politische Organisation einen doppelten Kampf führen. Einerseits muss sie gegen die neoliberale Logik der „verwalteten Welt“ ankämpfen und alternative Visionen einer gerechteren und demokratischeren Gesellschaft fördern. Andererseits muss sie widerstandsfähige, inklusive und flexible Organisationsformen entwickeln, die in der Lage sind, den Bedrohungen und Kontrollmechanismen der „verwalteten Welt“ standzuhalten.

Auf dem Weg zu einer neuen Politik des Widerstands

Adornos Theorie der verwalteten Welt, Crouchs Postdemokratie und Blühdorns simulative Demokratie, obwohl aus verschiedenen Zeiten und Kontexten, zeichnen gemeinsam ein Bild einer Gesellschaft, in der das echte politische Engagement der Bevölkerung durch eine Art „Show“ ersetzt wird, in der die Macht tatsächlich in den Händen einer kleinen Elite liegt. Dies stellt sozialistische Bewegungen vor erhebliche Herausforderungen, bietet jedoch auch neue Möglichkeiten für politische Organisation und Aktion. Die größte Herausforderung besteht darin, dass das bestehende System durch sein Versprechen von Partizipation und die scheinbare Aufrechterhaltung demokratischer Strukturen die Möglichkeit einer radikalen Veränderung verbirgt. In diesem Kontext wird es schwierig, die Notwendigkeit für tiefgreifende soziale und wirtschaftliche Transformation zu kommunizieren und dafür Unterstützung zu gewinnen.

Zudem besteht die Gefahr, dass sozialistische Bewegungen selbst Teil der „Show“ werden, indem sie sich in den bestehenden politischen Strukturen einordnen und so ihre radikale Kritik und ihr Streben nach Veränderung abschwächen.

Chancen für die sozialistische Politik

Trotz dieser Herausforderungen bieten die Theorien von Adorno, Crouch und Blühdorn auch Möglichkeiten für sozialistische Politik. Erstens können sie dazu dienen, das Bewusstsein für die Grenzen und Täuschungen der bestehenden politischen Ordnung zu schärfen und so die Kritik und Opposition gegen sie zu stärken.

Zweitens könnten sie als Inspiration für neue Formen des politischen Engagements und der Organisation dienen. Wenn die bestehenden politischen Strukturen und Prozesse zunehmend von einer Elite dominiert werden und der Großteil der Bevölkerung ausschließen, dann könnte die Antwort in der Schaffung neuer, alternativer Strukturen und Praktiken liegen, die eine echte Partizipation und Einflussnahme ermöglichen.

Der Weg nach vorn

Angesichts der Herausforderungen und Möglichkeiten steht die sozialistische Politik vor einer schwierigen, aber nicht hoffnungslosen Aufgabe.

Inmitten des neoliberalen Zeitalters, das von Theodor Adorno als eine „verwaltete Welt“ charakterisiert wurde und durch Colin Crouchs Postdemokratie und Ingolfur Blühdorns simulative Demokratie weiter ausgeleuchtet wurde, kristallisieren sich neue Formen des politischen Engagements und der Organisation heraus. Diese alternativen Strukturen und Praktiken versprechen echte Partizipation und Veränderung – und bieten so neue Hoffnung für die sozialistische Bewegung.

Eines der auffälligsten Beispiele sind die sogenannten horizontalen Netzwerke. In einer Gesellschaft, in der Macht und Reichtum zunehmend konzentriert sind, sind diese Netzwerke radikale Versuche, Gleichheit und Partizipation zu fördern. Anstatt einer Hierarchie setzen sie auf flache Strukturen, in denen jedes Mitglied gleichberechtigt ist und Entscheidungen gemeinschaftlich getroffen werden. Ein Beispiel hierfür ist die Occupy-Bewegung, die sich im Zuge der Finanzkrise von 2008 gegen die Macht der Banken und den wirtschaftlichen Status quo auflehnte. Aus marxistischer Sicht stellen solche Netzwerke eine Abkehr von der kapitalistischen Klasse und ihrer hierarchischen Struktur dar, indem sie auf Konsens und kollektive Entscheidungsfindung setzen.

Die Digitalisierung hat ebenfalls die politische Landschaft verändert und neue Formen des Engagements ermöglicht. Soziale Medien, Online-Petitionen und Crowdfunding-Plattformen sind zu wichtigen Werkzeugen für politische Mobilisierung und Organisation geworden. Sie ermöglichen es, Informationen schnell zu verbreiten, Unterstützer zu mobilisieren und finanzielle Ressourcen zu sammeln. Sie können jedoch auch zu „Clicktivism“ oder „Slacktivism“ führen, also einer oberflächlichen Beteiligung, die sich auf Likes und Shares beschränkt, ohne tiefere politische Verpflichtung. Aus marxistischer Sicht ist die Herausforderung, diese digitalen Werkzeuge in den Dienst von grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen zu stellen und nicht nur als Instrumente für oberflächlichen Aktivismus zu nutzen.

Graswurzelbewegungen, die von der Basis aus für Veränderung eintreten, bieten einen weiteren Weg für die sozialistische Politik. Sie stellen eine Rückkehr zu den Ursprüngen des Sozialismus dar, die in der Arbeiterbewegung und ihren lokalen Kämpfen um bessere Arbeitsbedingungen und soziale Gerechtigkeit liegen. Die Fridays for Future-Bewegung ist ein gutes Beispiel dafür, wie Graswurzelbewegungen das Bewusstsein für wichtige Themen wecken und Druck auf politische Entscheidungsträger ausüben können. Aus marxistischer Perspektive erinnern sie daran, dass der Wandel oft von unten kommt und von denjenigen ausgeht, die am meisten unter den bestehenden Bedingungen leiden. Besonders interessant scheint hier die Arbeit von Saul Alinsky in Sachen Organizing bzw. Transformative Organizing.

Auch Kooperativen stellen eine alternative Form der Organisation dar. Sie sind Unternehmen, die im Besitz und unter Kontrolle ihrer Mitglieder stehen und eine direkte Demokratie in der Wirtschaft ermöglichen. Sie widersprechen dem kapitalistischen Modell, in dem der Profit über alles gestellt wird, und setzen auf Zusammenarbeit und Gemeinschaft. Aus marxistischer Sicht bieten sie ein Modell für eine postkapitalistische Wirtschaft, in der die Arbeiter selbst die Kontrolle über die Produktionsmittel haben.

Schließlich steht die direkte Aktion als Mittel zur Herbeiführung unmittelbarer politischer oder sozialer Veränderungen zur Verfügung. Sie reicht von Streiks und Sitzblockaden bis hin zu Hacktivismus und kann eine wirksame Form des Widerstands und der Herausforderung des Status quo sein. Aus marxistischer Perspektive kann sie als ein Ausdruck des Klassenkampfes gesehen werden und eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung und Bewusstseinsbildung spielen.


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